Amyotrophe Lateralsklerose: Neue Wirkstoffe sollen Krankheitsauslöser stoppen

07.08.2020

Medizin

Amyotrophe Lateralsklerose: Neue Wirkstoffe sollen Krankheitsauslöser stoppen

Donnerstag, 6. August 2020

/tashatuvango, stock.adobe.com

St. Louis/Missouri und Worcester/Massachusetts – Für die amyotrophe Lateralsklerose (ALS), die infolge eines unaufhaltsamen Untergangs von Motoneuronen innerhalb weniger Jahre zum Tod führt, zeichnen sich erstmals Therapiemöglichkeiten ab, die das Fortschreiten der Lähmungen verlangsamen könnten.

Die Behandlung mit einem Antisense- Oligonukleotid, das die Produktion eines für die Erkrankung verantwortlichen Proteins verhindert, hat in einer Phase 1/2-Studie im New England Journal of Medicine (NEJM 2020; DOI: 10.1056/NEJMoa2003715) vielversprechende Ergebnisse erzielt. Eine alternative Behandlung könnte in einer Gentherapie bestehen, die erstmals an 2 Patienten erprobt wurde (NEJM 2020; DOI: 10.1056/NEJMoa2005056).

Bei der ALS kommt es zum Untergang der Nervenzellen, die das Gehirn mit dem Rückenmark (oberes Motoneuron) und das Rückenmark mit den Muskeln (unteres Motoneuron) verbinden. Das Gehirn verliert allmählich die Kontrolle über die Bewegun­gen der Muskeln, was zu einer fortschreitenden Schwäche der Skelettmusku­latur führt. Da auch die Muskeln des Brustkorbs betroffen sind, kommt es zunehmend zu Atem­problemen.

Die ALS hat viele Ursachen. Etwa 2 % der Erkrankungen werden durch Mutationen im Gen für die Superoxid-Dismutase 1 (SOD1) ausgelöst. Sie haben eine Überaktivität des Enzyms zur Folge. Eine Behandlung könnte in der Hemmung der Gen-Expression bestehen. Dies ist heute mit Antisense-Oligonukleotiden möglich, die sich an die Boten-RNA anlagern und deren Zerstörung einleiten.

Nachdem sich die Behandlung bei Mäusen und Ratten als effektiv erwiesen hat, wurde im Januar 2016 an 18 Zentren in 6 Ländern (darunter Deutschland) eine erste klinische Studie begonnen: Insgesamt 50 Patienten mit nachgewiesenen Mutationen im SOD1-Gen wurden auf eine Behandlung mit dem Antisense-Oligonukleotid Tofersen (in 4 verschiedenen Dosierungen) oder Placebo randomisiert. Die Mittel wurden an den Tagen 1, 15, 29, 57 und 85 als Bolus in den Liquorraum injiziert. Von dort sollten sie in die Motoneurone diffundieren und dort das SOD1-Gen abschalten.

Das Hauptziel einer Phase-1/2-Studie ist die Prüfung der Sicherheit und die Suche nach einer geeigneten Dosis. Wie Timothy Miller von der Washington University in St.Louis und Mitarbeiter berichten, wurde Tofersen im Allgemeinen gut vertragen. Die häufigsten Nebenwirkungen waren Schmerzen und Kopfschmerzen durch die Lumbalpunktion. Im Verlauf der Studie kam es zu mehreren Todesfällen, die allerdings auf das Fortschreiten der Erkrankung (Atemversagen, Lungenembolien) zurückzuführen waren.

Bei der Untersuchung des Liquors, von dem vor jeder Injektion Proben entnommen wurden, fanden die Forscher erste Hinweise auf eine mögliche Wirkung. Die Konzentra­tion des SOD1-Proteins nahm im Verlauf der Behandlung ab: in der Niedrigdosisgruppe um durchschnittlich 2 % und in der Hochdosisgruppe um 33 %.

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Ob dies Auswirkungen auf den Verlauf der Erkrankung hat, wird derzeit in einer Phase- 3-Studie untersucht, an der 18 Patienten (deutsche Beteiligung: Ulm) teilnehmen. Ergebnisse werden für Mitte 2023 erwartet.

Sollte Tofersen tatsächlich das Fortschreiten der Lähmungen hinauszögern und die Lebens­zeit verlängern, wäre es die erste krankheitsmodifizierende Behandlung bei der ALS. Sie käme allerdings nur für die kleine Gruppe von Patienten infrage, bei denen die Erkrankung durch eine Überproduktion von SOD1 ausgelöst wird.

Eine weitere Behandlung wird derzeit an 2 Kliniken in Massachusetts erprobt. Die Patienten erhalten eine intrathekale Injektion eines Adeno-assoziierten Virus, das eine microRNA in die Motoneurone transportieren soll. Die microRNA würde einen Mechanismus starten, der zur Stilllegung des Gens führt. Die Behandlung hätte den Vorteil, dass sie nicht regelmäßig wiederholt werden müsste.

Bei dem ersten Patienten kam es jedoch zu einer starken Entzündungsreaktion, die den Einsatz von Kortikosteroiden erforderlich machte. Dennoch kam es zu einer Verminderung der SOD1-Konzentration in den Motoneuronen, wie später bei einer postmortalen Untersuchung festgestellt wurde. Vor dem Tod hatte sich die Muskelkraft im rechten Bein des Patienten vorübergehend verbessert, was laut dem Team um Robert Brown von der University of Massachusetts Medical School in Worcester auf eine mögliche Wirksamkeit hindeutet.

Beim zweiten Patienten wurde durch die präventive Gabe von Immunsuppressiva eine Entzündungsreaktion vermieden. Bei diesem Patienten, der bei Erstellung der Studie noch lebte, ist es über 12 Monate zu einer Stabilisierung der klinischen Symptome und der Lungenfunktion gekommen, die Forscher zu einer Fortsetzung ihrer Studie ihrer Behandlung in einer größeren klinischen Studie ermuntert. © rme/aerzteblatt.de