MHE Multiple kartilaginäre Exostosen von Herrn Dr. Lauen Leiter des Institutes für seltene ,chronische Skeletterkrankungen an der BGU-Murnau

26.04.2020

Multiple kartilaginäre Exostosen - MKE

 

Synonyme :

Multiple kartilaginäre Exostosen - MCE

Exostosenkrankheit

Multiple Hereditäre Exostosen – MHE

Hereditary Multiple Exostoses

 

Ätiologie:

Die Exostosenkrankheit ist eine autosomal dominant vererbte Skeletterkrankung, die zahlreiche Regionen des knorpelig präformierten Skelettsystems befällt. Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen, etwa 70% zeigen eine familiäre Reihe, 30% sind Neumutationen. Mit einer Inzidenz von 1:50000 zählt die multiplen Exostosen zu den seltenen Systemerkrankungen des Skeletts, allerdings handelt es sich um die häufigste Knochentumorerkrankung. Die Penetranz liegt bei 96%, im Alter von 3 Jahren (Penetranz 50%) werden über die Hälfte der Erkrankungen erstdiagnostiziert  [Tachdjian 2014].

 

Epidemiologie:

3 Genloci sind entschlüsselt, EXT1 (8q 23-24), EXT 2 (11p11-13) und EXT 3 (19p).  Soweit bisher bekannt, handelt es sich um eine Biosynthesestörung des von den Knorpelzellen gebildeten Proteoglycans Heparansulfat, das eine wichtige Signalrolle für die Wachstumsfuge erfüllt. Es resultiert Fehlorganisation der Knorpelzellen der Wachstumsfuge, mit Bildung der ungeordnet wachsenden Exostosen [Tachdjian 2014].

 

Pathologie:

Multiple kartilaginäre Exostosen sind primär gutartige, von der Epiphysenfugen-Metaphysen Grenze ausgehende Tumore (Osteochondrome), die aus Spongiosa, Kortikalis und einem hyalinen Knorpelmantel bestehen [Ettl 2005].

Alle Exostosen haben eine kartilaginäre Kappe, deren Dicke mit zunehmendem Alter abnimmt, und normalerweise 1 cm dicke nicht überschreitet. Das Periost neben der Exostose ist meistens verdickt und bedeckt diese ohne Unterbrechung. Histologisch findet sich zwischen der Knorpelkappe und dem Basis eine Fuge mit Proliferationsknorpel. Die Spongiosa und die Kortikalis der Exostose gehen nahtlos in die des Ursprungsknochens über [Karbowski 1995, Solomon 1963, Fogel 1984]. Beim ausgewachsenen Patienten reduziert sich die Knorpelkappe bis auf ein Minimum oder verknöchert sogar vollständig.

Bleiben Knorpelreste im Erwachsenen bestehen, so können sie Ursprung eines (sarkomatösen) Malignoms sein, insbesondere wenn sie am Rand dieser Kappe auftreten und größer als 1 cm sind (Chondrosarkom). Die Prävalenz einer solchen Entartung variiert in der Literatur zwischen 1% bis über 25% [Karbowski 1995; Solomon 1963; Vanhoenacker 2001], in aktuellen Studien sind die Angaben mit 0,9 – 5% geringer [Tachdjian 2014]. Die Seltenheit der Erkrankung und das Fehlen zentraler Register sind für die hohe Variation verantwortlich zu machen. Nur umfassende Langzeitstudien mit zentralem Register und exakter Zuordnung werden hier genauere Daten liefern können.

 

Körperliche Veränderungen:

Die Knochenveränderungen fallen meist ab dem 3.Lebensjahr (>50%) als gut begrenzte, feste knöcherne Vorwölbungen auf.

Vorwiegend die multiplen Exostosen führen zu einer Veränderung der regulären Anatomie. Man unterscheidet exzentrische Exostosen, die die Verbindung zum benachbarten Wachstumsfugenknorpel verlieren und mit dem Längenwachstum von der Metaphyse zur Diaphyse wandern von so genannten „Full-thickness-Exostosen“, die die gesamte Metaphyse betreffen und diese flaschenförmig vergrößern und in der Form verändern. Während die exzentrische Exostose das Längenwachstum nur indirekt beeinträchtigt, wirkt sich die „Full-thickness-Exostose“ direkt auf das Längenwachstum der Knochen negativ aus. So liegt das Längenwachstum in einer Studie in 58% der Untersuchten unter der 25. Perzentile.

Die stärksten Wachstumsstörungen treten bei den paarig angelegten Knochen des Unterarmes und des Unterschenkels auf, bei denen sich die Exostosen gegenseitig bedrängen und sekundär zu Wachstumsdifferenzen und erheblichen Verbiegungen führen können. Hier resultieren vor allem aus dem unkoordinierten Wachstum der Gelenkpartner erhebliche Gelenkinkongruenzen und damit funktionelle Bewegungs- und Funktionsdefizite.

Bei der Hälfte bis dreiviertel der Patienten treten daher sekundäre Deformitäten und Gelenkstörungen auf, die vorwiegend den Unterarm beeinträchtigen [Shapiro 1979, Fogel 1984, Vanhoenacker 2001, Karasik 1997, Solomon 1963, Ettl 2005].

Die hohe Funktionalität des Unterarmes führt selbst bei kleineren Exostosen relativ früh zu Ausfällen der Umwendbewegung, gefolgt von der Handgelenkfunktion und zuletzt der Ellenbogenbeweglichkeit (Radiusköpfchenluxation).

An der unteren Extremität beeinträchtigen die Exostosen vor allem das Sprunggelenk.

Die klinisch relevanten Deformitäten sind Radiusköpfchenluxation (22%), Radiusdeformität mit Ulnadeviation der Hand (60%), Tibia valga (33%) und Pes valgus (54%) [Karbowski; Shapiro 1979, Solomon 1963, Fogel 1984].

Radiologisch ist die Erkrankung leicht zu diagnostizieren. Das früheste Zeichen ist eine an die Wachstumsfuge angrenzende asymmetrische oder schnabelförmige Vorwölbung der Knochenoberfläche [Solomon 1963, Vanhoenacker 2001]. Neben breitblasigen, sessilen Exostosen und schmalblasigen, kurzen oder langen gestielten Exostosen bietet die Erkrankung weitere morphologische Bilder: eine glatte Oberfläche oder ein blumenkohlartiges Erscheinungsbild [Solomon 1963].

 

Operationen:

Die kartilaginäre  Exostosenkrankheit ist eine sehr variable Erbkrankheit. Ausprägungsgrad, Verteilungsmuster, Größe, Einschränkungen der Funktionalität und  sekundäre Deformitäten variieren individuell.

Die Vielzahl der Exostosen führt zu der schwer lösbaren Frage, welche Exostosen haben die größten negativen Auswirkungen, welche führen zu den unerwünschten  sekundären Deformitäten und sollten zügig entfernt werden, welche stören weniger und haben Zeit.

 

Wir blicken auf über 2000 Exostosen Entfernungen zurück und konnten entscheidende Kriterien herausarbeiten. Die Einteilung in Bedeutungsgrade erweist sich hierbei als überaus nützliches Kriterium.

  • Exostosen ohne wesentliche Weichteilverdrängung
  • Exostosen mit Weichteilverdrängung
  • Exostosen mit Weichteilverdrängung und Funktionsstörungen (Umlenkung von Muskeln/Sehnen)
  • Exostosen mit Wachstumsstörung (z.B. X-Bein)
  • Exostosen mit gegenseitiger Beeinflussung (paarige Knochen von Unterarm, Unterschenkel) und sekundärer Deformität
  • Exostosen mit Gefäß- und/oder Nervenengpässen
  • Sonderfälle (Exostosen im Rückenmarkkanal, das Rückenmark und Nervenaustritte kompromittierend; in den Brustkorb wachsend mit Verdrängung von Lungengewebe und Atemstörungen; die Luftröhre und Halsgefäße verdrängend)

 

Aus diesen Bedeutungsgraden wird eine Risikobeurteilung erstellt. Diese muss dann abgeglichen werden mit den vorhandenen Beschwerden und der individuellen Beurteilung über den Grad der Beeinträchtigung, der durchaus vom Risikoplan abweichen kann. Psychologische und optische Aspekte prominent sichtbarer Exostosen spielen ebenfalls eine Rolle. Nicht zuletzt sollte das Sanierungskonzept in die familiären Gegebenheiten und den Schulplan passen.

 

Versucht man die unterschiedlichen operativen Ansätze etwas genauer aufzuschlüsseln, so kristallisieren sich im Wesentlichen zwei Interventionswege heraus.

Im ersten Fall werden nur die großen Exostosen entfernt, die entweder das Gelenk mechanisch stören oder durch Verdrängung von Muskeln und Sehnen zu funktionellen Störungen führen. Ferner diejenigen, die durch Verdrängungen Nerven- und Gefäßschäden verursachen. In diesem Fall konzentriert man sich auf größere Exostosen und beseitigt mit geringerem Risiko nur die primär störenden Exostosen. Nachteil dieser Methode ist, dass ein Großteil der Exostosenformationen verbleiben und im gleichen Areal wiederum erneute Störungen verursachen kann. Die Reparationsvorgänge im Rahmen der Operation führen zu einer Mehrdurchblutung, die, wie wir registrieren konnten, auch zu einem schnelleren Wachstum der verbleibenden Exostosen führen kann. Sie ist nicht obligatorisch und wird auch nicht in jedem Fall beobachtet, das Risiko ist allerdings begründet und zu berücksichtigen.

 

Im zweiten Fall werden sämtliche Exostosen in einem Extremitäten Abschnitt entfernt. Dies ist insbesondere an den Knochen wichtig, die paarig vorkommen. Hierbei können sich die Exostosen gegenseitig verhaken oder über Beeinflussung der Zwischenknochenmembran zu einer Dissoziation des Längenwachstums beider Knochen mit der Folge einer erheblichen Gelenkdeformität führen. Der Vorteil der Grundsanierung liegt natürlich darin, dass man die gegenseitige Beeinflussung und Hemmung des Wachstums beseitigt und, wenn man dies früh genug unternimmt, auch das gravierende Folgefehlwachstum verhindert. Der Nachteil liegt natürlich in dem wesentlich aufwendigeren Eingriff mit auch wesentlich höherem Risikopotential. Die Eingriffe erfordern Erfahrungen auf orthopädischem, gefäß- und neurochirurgischem Gebiet und bleiben damit oft großen Zentren mit entsprechenden Fachrichtungen vorbehalten.

Letztendlich können kleinste Knorpelinseln unter der Knochenhaut nicht alle aufgefunden und saniert werden, da es natürlich auch gilt, die Wachstumsfugen nicht zu beschädigen. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass auch bei sogenannter Komplettsanierung neue Exostosen im gleichen Knochenabschnitt neu auftreten. Die der Erkrankung zu Grunde liegende Störung des wachsenden Knorpels kann zudem weitere Exostosen produzieren.

Darauf begründet sich die Auffassung, zu einem möglichst späten Zeitpunkt zu operieren. In Anbetracht der sekundären Deformitäten kann der Konsens nur lauten: „so früh, wie nötig und so spät, wie möglich.“

Beruhigend kann nach unserer bisherigen Erfahrung festgestellt werden, dass die nach Komplettsanierung auftretenden Exostosenformationen relativ klein bleiben und in dem bisherigen Beobachtungszeitraum nicht zu den Wachstumsstörungen geführt haben, wie ihre umfangreicheren primären Exostosen.

 

Es gibt im angloamerikanischen Raum kein einheitliches Standardverfahren. Vielmehr bleibt die Entscheidung dem jeweiligen Operateur offen.

 

Wir arbeiten derzeit durch kernspintomographische Erst- und Kontrolluntersuchungen daran, einen größeren Patientenpool zu erfassen und über einen längeren Zeitraum  zu kontrollieren. Anhand der Studienergebnisse erwarten wir einen genaueren Aufschluss über die Häufigkeit von Rezidiven nach den unterschiedlichen Operationsansätzen.

 

Die bisher nur bei den bösartigen Tumoren etablierten Ganzkörper-Kernspintomographien bieten auch für die kartilaginären Exostosen eine gute Übersicht und darüber hinaus Möglichkeit einer Einschätzung des  Wachstumspotentials in der Verlaufsbeobachtung. Der zeitliche Aufwand ist groß und ist derzeit nur in Form einer Studie realisierbar.