Spinale Muskelatrophie: Millionenteures Medikament Zolgensma vor Zulassung in Europa

01.04.2020

Medizin

Spinale Muskelatrophie: Millionenteures Medikament Zolgensma vor Zulassung in Europa

Montag, 30. März 2020

/picture alliance, AP Photo

Amsterdam − Fast ein Jahr nach der US-amerikanischen FDA hat jetzt auch die europäi­sche Arzneimittel-Agentur EMA grünes Licht für die Zulassung einer Gentherapie für die spinale Muskelatrophie (SMA) gegeben.

Onasemnogene abeparvovec-xioi dürfte demnächst als Zolgensma von der EU-Kommissi­on zugelassen werden. Der Preis der bisher teuersten Behandlung soll etwa 1,9 Millionen Euro für eine einzige Infusion betragen, die die Erkrankung lebenslang stoppen soll.

 

Die Gentherapie wurde zur Behandlung der spinalen Muskelatrophie vom Typ 1 (Werdnig-Hoffmann) entwickelt, der schwersten Form der angeborenen Muskelatrophie. Ursache der Erkrankung sind Mutation oder Deletionen im SMN1-Gen, das sich auf dem Chromo­som 5q befindet. Die Folge ist ein Mangel am SMN-Protein („survival motor neuron“), das, wie der Name schon andeutet, für das Überleben der Motoneurone notwendig ist.

Die Motoneurone leiten Signale vom motorischen Cortex über das Rückenmark zur Mus­ku­­latur. Ihr Ausfall führt zu einer generellen Muskelschwäche. Der Schweregrad hängt davon ab, wie viele Kopien des SMN2-Gens die Betroffenen besitzen.

Das SMN2-Gen enthält die Information für ein verkürztes Protein, das die Funktion des SMN-Proteins zwar nicht vollständig ersetzen kann, die Entwicklung einer Muskelatro­phie jedoch hinauszögert. Beim Typ 1 stehen meist nur 1 bis 2 SMN2-Kopien zur Verfü­gung. Bei den betroffenen Kindern beginnt die Muskelschwäche bereits in den ersten Lebensmonaten.

Viele Kinder fallen zuerst durch fehlendes Schreien auf. Da die Saugfähigkeit vermindert und das Schlucken gestört ist, kommt es frühzeitig zu Fütterproblemen. Später kommt eine Atemschwäche hinzu. Die Kinder müssen bald beatmet werden. Wegen der Muskel­schwä­che können sie nicht ohne Unterstützung sitzen, und sie lernen niemals laufen.

Die Erkrankung kann seit 2017 mit dem Antisense-Oligonukleotid Nusinersen behandelt werden. Das Mittel greift in den Spleißprozess des SMN2-Gens ein, wodurch die Produkti­on eines intakten SMN-Proteins gesteigert wird. Die Behandlung mit Nusinersen (Spinra­za) muss alle 4 Monate wiederholt werden. Die Kosten liegen bei etwa 300.000 Euro pro Jahr.

Die Gentherapie mit Onasemnogene abeparvovec-xioi erfolgt nur einmalig. Dem Patien­ten wird per intravenöser Infusion eine Lösung mit einem Adeno-assoziierten Virus (AAV) verabreicht. Das AAV ist mit einer intakten Kopie des SMN1-Gens beladen, die es in den Motoneuronen ablädt. Dort kommt es dann zur Produktion des SMN-Proteins.

Die Wirksamkeit von Onasemnogene abeparvovec-xioi wurde in mehreren Phase 1-Studi­en („START“) und in einer Phase-3-Studie („STR1VE-US“) untersucht. Eine weitere Phase-3-Studie („STR1VE-EU“) läuft derzeit in Europa. Die Zulassung der EMA beruht im we­sent­lichen auf den Ergebnissen der US-Studie, deren Ergebnisse noch nicht publiziert sind.

An der offenen Studie hatten 22 Patienten teilgenommen, von denen 20 Patienten im Alter von 14 Monaten ohne dauerhafte Beatmungsunterstützung am Leben waren, was beim natürlichen Verlauf der Erkrankung nur bei 1/4 der Patienten der Fall ist.

Die Patienten erreichten laut EMA weitere motorische Meilensteine, die normalerweise nicht erreicht werden: 14 Patienten waren vor dem 18. Lebensmonat in der Lage, alleine zu sitzen. Ein Patient konnte sogar ohne fremde Hilfe gehen, bevor er 16 Monate alt war. Am meisten scheinen Kinder zu profitieren, deren Muskelschwäche noch nicht allzu weit fortgeschritten ist.

Die am häufigsten beobachteten Nebenwirkungen war ein Anstieg der Leberenzyme und Erbrechen. Um die Gefahr von Leberschäden zu minimieren, werden die Patienten vor und nach der Behandlung vorübergehend systemisch mit Steroiden behandelt. Nach der Infusion wird die Leberfunktion über mindestens 3 Monate überwacht.

Da die Datenlage noch schwach ist, wird die Zulassung in Europa an die Durchführung von weiteren klinischen Studien geknüpft. Außerdem soll ein Patientenregister eingerich­tet werden. Die EMA gibt nur eine Empfehlung zur Zulassung ab, die in der Regel inner­halb weniger Monate durch die Europäische Kommission erfolgt. In den USA wurde Zol­gens­ma bereits im Mai 2019 zugelassen. In Japan erfolgte die Zulassung vor wenigen Ta­gen.

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Mit 2,125 Millionen US-Dollar ist Zolgensma die derzeit teuerste Behandlung aller Zeiten. In Europa soll das Medikament 1,9 Millionen Euro kosten. Der Hersteller begründet den Preis in einer Pressemitteilung mit den hohen Kosten der bisherigen Behandlung, die sich im Rahmen von 2,5 bis 4 Millionen Euro in den ersten 10 Lebensjahren bewegen würden.

Der hohe Preis dürfte jedoch weniger durch die Herstellungskosten zu erklären sein als durch die Tatsache, das der Hersteller Novartis im Jahr 2018 die Firma AveXis, die die Gentherapie entwickelt hat, für 8,7 Milliarden US-Dollar gekauft hat.

Diese Investition rentiert sich nur bei einem hohen Preis, weil die Erkrankung relativ selten ist. In Deutschland werden jährlich schätzungsweise 80 bis 115 Kinder mit SMA geboren, davon etwa die Hälfte mit dem Typ 1, für den die Behandlung infrage kommt.

Der Wirkstoff ist bereits über eine Härtefallregelung verfügbar. Die Patienten müssen da­für an einer Lotterie teilnehmen, über die weltweit 100 Behandlungen verlost werden. Die Krankenkassen wehren sich teilweise gegen eine Kostenübernahme. In der Öffent­lich­keit ist es deshalb bereits zu Spendenaufrufen für einzelne betroffene Kinder ge­kommen.

Kritik an fehlender Altersvogabe

Janbernd Kirschner, Direktor der Abteilung für Neuropädiatrie mit dem Sozialpädiatri­schen Zentrum (SPZ) des Universitätsklinikums Bonn, bezeichnete es als „zunächst einmal sehr erfreulich, dass die lange Wartezeit seit der Entscheidung der FDA jetzt vorüber“ sei. Sehr überraschend und irgendwie auch unverständlich sei allerdings die Tatsache, dass die Indikation ohne Beschränkung des Alters und/oder des Körpergewichts festgelegt wurde, sagte er dem Deutschen Ärzteblatt.

Die Europäische Zulassungsbehörde empfiehlt die Zulassung für alle Patienten mit SMA Typ I und darüberhinaus für alle Patienten mit SMA und 2 oder 3 SMN2 Kopien. Damit seien zwar vor allem eher schwerer betroffene Patienten eingeschlossen, es gebe aber auch viele Jugendliche und Erwachsene mit diesen Charakteristika.

„Abgeschlossene klinische Studien gibt es aber bisher nur für Säuglinge und die Zu­lassung in den USA erfolgte mit einer Altersgrenze von 2 Jahren“, sagte Kirschner. Für wel­che älteren Patienten der Einsatz der Genersatztherapie sicher und wirksam sei, blie­be aktuell reine Spekulation. Die Indikationsstellung – und vermutlich auch die Diskussi­on um die Kostenübernahme – werden dem Experten zufolge also weiterhin eine He­raus­forderung bleiben. © rme/may/aerzteblatt.de