Notfall Kindermedizin Warum Kinder an deutschen Kliniken in Lebensgefahr geraten

16.11.2019

Do 14.11.2019 | 21:45 | Kontraste

Notfall KindermedizinWarum Kinder an deutschen Kliniken in Lebensgefahr geraten

Kinder sind die schwächsten aller Patienten. Die Versorgungsengpässe in deutschen Kliniken sind mittlerweile so massiv, dass Kinder in Lebensgefahr geraten oder sogar sterben. Das erklären Ärzte gegenüber Kontraste. Eine aktuelle Studie der Universität Köln bestätigt die Missstände. Hintergrund ist die Kommerzialisierung des Krankenhauswesens, unter der Kinderkliniken besonders leiden. Mit der Einführung der Fallpauschalen werden nicht mehr die tatsächlich anfallenden Kosten erstattet. Die Zahl der behandelten Kinder ist in 16 Jahren um 25 Prozent gestiegen, im gleichen Zeitraum wurden unter dem Spardruck 33 Prozent der Betten in der Kindermedizin abgebaut. Hinzu kommt: Intensivbetten müssen teilweise wegen Personalmangel gesperrt werden. Kontraste schildert das Schicksal hilfloser Eltern schwer erkrankter Kinder und konfrontiert die Gesundheitspolitiker der Großen Koalition.

Frieda ist schwer krank. Ihre Lunge funktioniert nicht so, wie sie soll. Rund um die Uhr wird sie künstlich beatmet. Ein einfacher Infekt verläuft bei ihr meist heftig. Sie muss dann schnell ins Krankenhaus, wie vor kurzem.

Elisabeth Zattler, Mutter

„Friedas Werte wurden immer schlechter. Dann hat das Fiebermittel nicht mehr, nicht mehr Wirkung gezeigt. Die konnte nicht mehr weinen, die konnte sich nicht mehr bewegen, die hat einfach nur noch versucht zu atmen. Und da muss man halt aufpassen, weil es sehr schnell zu einem Erschöpfungszustand kommen kann, was dann sehr gefährlich wird.“

Was Frieda und ihre Eltern dann erlebten – eine regelrechte Odyssee: In ganz München fanden sie kein Bett für ihre einjährige Tochter. In der Millionenstadt waren offenbar alle Intensivbetten für Kinder belegt.

Elisabeth Zattler

„Bis wir dann letztendlich aufgenommen wurden waren es dann in Augsburg, waren es dann acht Stunden.“

Ein großer Schreck - der schließlich im 80 Kilometer entfernten Augsburg endete, wo Frieda dann zum Glück geholfen wurde.

Schwerkranke Kinder, die keinen Platz im Krankenhaus finden – ein Problem das sich zuspitzt.

Alex Rosen, Vorstand „Ärzte in sozialer Verantwortung“

„Die schlimmste Auswirkung und direkteste Auswirkung, die wir von diesem Missstand sehen, ist, dass hier in Deutschland auch in Städten wie München, Stuttgart oder hier in Berlin, Kinder, die eigentlich auf eine Intensivstation gehören, dort keine Kapazität finden und deswegen auch versterben.“

Anmoderation: Kinder geraten in Lebensgefahr - einfach, weil im Krankenhaus kein Platz für sie ist. Hier bei uns in Deutschland - wir konnten es fast nicht glauben. Immerhin leisten wir uns eins der teuersten Gesundheitssysteme der Welt  - mehr als jeder zehnte Euro, der hier erwirtschaftet wird, geht an Mediziner, Kliniken und Pharmaunternehmen. Aber: Von den vielen Milliarden kommt ausgerechnet in den Kinderkrankenhäusern zu wenig an. So das mittlerweile Eltern und Ärzte Alarm schlagen.

Alex Rosen war in den letzten 15 Jahren Arzt in verschiedenen Kinderkliniken, derzeit leitet er eine Kindernotaufnahme in Berlin. Erstmals spricht er öffentlich über die schlechten Bedingungen für Ärzte, Pfleger und ihre kleinen Patienten, als Vorstand einer Ärzteorganisation.

Alex Rosen, Vorstand "Ärzte in sozialer Verantwortung"

"Ich fürchte, immer mehr Kinderärzte in Deutschland erleben diese Situation, die ich auch schon erleben musste, dass Anfragen von anderen Krankenhäusern kommen: Wir haben hier ein Kind, wir glauben, das ist bei uns nicht optimal aufgehoben, wir glauben, es braucht eure Spezialisierung an Intensivstation. Und wir dann sagen müssen: Ruft morgen nochmal an. Und am nächsten Tag rufen wir dann an und dann heißt es: Das Kind hat leider die Nacht nicht geschafft."

Betten gibt es zwar genug, das Problem aber ist, dass Pfleger und Schwestern fehlen, die die Kinder versorgen können.

Bei Prof. Mall, Chefarzt der Kinderklinik der Berliner Charité, sind deshalb im Schnitt 20 Prozent der Intensiv-Betten gesperrt und er sucht händeringend qualifiziertes Personal.

Prof. Marcus Mall, Direktor Klinik für Pädiatrie, Charité Berlin

"Wenn wir keine Betten haben, ist es so, dass wir zunächst versuchen, dass wir zunächst erstmal versuchen, die Kinder innerhalb von Berlin zu verlegen, dass wir, wenn das nicht gelingt, auch Kinder in Kliniken nach Brandenburg verlegen. Im Einzelfall ist es auch schon vorgekommen bis nach Rostock und Stralsund."

Wir fragen Prof. Mall, ob er Fälle kennt von Kindern, die versterben, weil die Charité sie nicht rechtzeitig aufnehmen konnte.

Prof. Marcus Mall, Direktor Klinik für Pädiatrie, Charité Berlin

"Ich kann so beantworten, dass das natürlich was ist, wovor man Angst hat in so einer Situation, wo jetzt mir in meiner Klinik allerdings glücklicherweise kein Fall bekannt ist.

Kontraste

"Aber das sind ja schon, die Gefahr ist ja jedenfalls da sozusagen."

Prof. Marcus Mall, Direktor Klinik für Pädiatrie, Charité Berlin

"Die Gefahr ist da."

Seitdem Krankenhäuser Gewinne schreiben sollen und 2004 die sogenannten Fallpauschalen eingeführt wurden, wächst das Problem. Die Kliniken werden seither nicht mehr für die tatsächliche Dauer der Behandlung bezahlt, sondern pro Fall – also Patient. Um in diesem System profitabel zu sein, müssen immer mehr Patienten in immer kürzerer Zeit abgearbeitet werden. Doch was Kinder vor allem brauchen, ist Zeit.

Prof. Marcus Mall, Direktor Klinik für Pädiatrie, Charité Berlin

"Eine Blutentnahme, das ist beim Erwachsenen überhaupt kein Problem, das ist Standard, innerhalb von wenigen Minuten. Beim Kind kann uns das, je nachdem wie gut das Kind mitmacht oder abwehrt, ein kleiner Eingriff sein, der bis zu zwei Ärzten und Pflegekräften 20 Minuten bis zu einer halben Stunde beschäftigt. Und das ist ein Zusatzaufwand, der in diesem Fallpauschalen-System überhaupt nicht abgebildet wird."

Um trotzdem schwarze Zahlen zu schreiben, wurde über Jahre am Kostenfaktor Pflege-Personal gespart. Auch an Kinderkliniken.

Alex Rosen, Vorstand "Ärzte in sozialer Verantwortung"

"Als ich junger Assistenzarzt war, da erinnere ich mich, dass die Pflegeleitung meines damaligen Krankenhauses Boni bekommen hat, wenn sie Pflegestellen eingespart hat."

Im Jahr 2000 gab es an Kinderkliniken noch gut 40 000 Pflegestellen, 2017 waren es nur noch 37 700. Während die Fälle im selben Zeitraum auf fast eine Million pro Jahr angestiegen sind.

Wie dramatisch die Situation für Ärzte, Pfleger und Patienten mittlerweile ist, belegt eine aktuelle Studie der Medizinethikerin Prof. Christiane Woopen. Sie hat mit ihrem Team der Uni Köln zahlreiche Interviews mit Mitarbeitern an privaten und öffentlichen Kinderkliniken geführt.

Prof. Christiane Woopen, Medizinethikerin Universität Köln

"Mich hat schockiert, dass es teilweise zu Situationen kommt, in denen wirklich eine Lebensgefahr für die Patienten entsteht und dass die Menschen, die aus einem hohen Idealismus heraus unsere Kinder medizinisch versorgen möchten und das natürlich gerne qualitativ hochwertig tun möchten und mit großem Engagement, das nicht können, weil sie unter wirtschaftlichen Zwängen stehen, die ihnen das zum Teil nicht ermöglichen."

Diesen Druck in der alltäglichen Versorgung halten viele einfach nicht mehr aus.

Prof. Christiane Woopen, Medizinethikerin Universität Köln

 "Irgendwann sind auch die Kräfte der am höchsten motivierten Menschen erschöpft. Und dann sehen sie oft keine andere Möglichkeit, als einfach ihren Beruf zu wechseln."

Linett ist ein weiteres Opfer des Pflegemangels. Seit Monaten warten ihre Eltern und sie auf eine Herz-OP. Sie hat ein Loch im Herzen, ist für ihr Alter zu klein und dünn. Essen – für Mutter Sophie jedes Mal ein Kampf.

Szene Essen: Wenigstens zwei, drei Löffel?

Kind schüttelt den Kopf, Nein.

Linetts Eltern machen sich große Sorgen. Seit Anfang des Jahres warten Sophie und Erik Semt auf die notwendige Herz-Operation. Ein fest vereinbarter Termin am Deutschen Herzzentrum Ende Juli in Berlin wurde kurzfristig telefonisch abgesagt.

Sophie Semt, Mutter

"Die OP hätte von Linett aus stattfinden können, da war alles super und dann haben die zu meinem Mann gesagt, dass zu wenig Betten da sind. Und dann wollten wir nochmal mit der Chirurgin, war das 'ne Chirurgin?"

Vater

"War eine Chirurgin gewesen…"

"Ne Chirurgin nochmal sprechen, die hat dann zurückgerufen gehabt und die hat dann gesagt, dass mit zu wenig Betten der Personalmangel gemeint ist."

Sie haben sich sofort um einen neuen OP-Termin bemüht, auch bei einer weiteren Spezial-Klinik. Doch sie bekommen keinen festen Termin, nur eine unverbindliche Zusage. Überall Personalmangel.

Sophie Semt, Mutter

"Das Kind könnte gesund sein, das ist das Schlimme. Ihr könnte es gut gehen und ich sehe jeden Tag, dass es ihr nicht gut geht."

Bei unseren Recherchen stoßen wir auf viele weitere solcher Fälle. Bundesweit Engpässe vor allem in der Kinderintensivmedizin.

Ein Problem, das es nach den Zahlen des Bundesgesundheitsministeriums nicht gibt. Anfang des Jahres heißt es auf eine Anfrage der Linken zur Lage der Kinderkliniken:

Zitat

"Eine strukturelle Unterversorgung … ist nicht gegeben."

Bei dieser Antwort nennt Jens Spahns Ministerium allerdings nur die Zahl aufgestellter Betten.

Tatsache aber ist: ein Teil dieser Betten steht ja wegen fehlender Pflegekräfte gar nicht zur Verfügung.

Eine der vielen negativen Folgen des Fallpauschalen-Systems.

Bei Kinderkliniken hat es ausgedient, meint nun selbst SPD-Politiker Karl Lauterbach, der das System unter rot-grün quasi mit eingeführt hat.

Karl Lauterbach (SPD), Bundestagsabgeordneter

"Denn die Situation bei Kindern spitzt sich jetzt stark zu und da kann man auch nichts aufheben. Da müssen wir aus meiner Sicht handeln und auch bereit sein, das Fallpauschalen-System in diesem Sektor aufzugeben."

Den zuständigen Gesundheitsminister Spahn konfrontieren wir am Rande einer Tagung des Marburger Bundes mit der Kritik an den Fallpauschalen, den so genannten DRGs.

Kontraste

"Herr Lauterbach sagt ja, wir müssen die Kinderkliniken möglicherweise komplett aus dem DRG-System rausnehmen. Was sagen Sie dazu?"

Jens Spahn (CDU) Bundesgesundheitsminister

"Das ist ein Teil der Debatte ist ein möglicher Weg, ich schaue aber auch, ob es im Fallpauschalen-System entsprechende Wege gibt. Ich möchte mir wie gesagt jetzt nochmal in einem weiteren Schritt nochmal alle Argumente anhören und dann miteinander schauen, ob wir Fallpauschalen weiterentwickeln müssen."

Die Eltern der kleinen Linett wollen darauf nicht warten. Sie versuchen nun einen OP-Termin in einer niederländischen Klinik zu bekommen.

Sophie Semt

"Das kann doch nicht wahr sein, das kann doch nicht hier passieren, wir leben hier in Deutschland."

Beitrag von Ursel Sieber, Wolf Siebert, Lisa Wandt und Marcus Weller

Stand vom 14.11.2019