Operation kann bei Kindern mit Zerebralparese die Spastizität abschwächen und die Lebensqualität verbessern

05.05.2019

London – Eine selektive dorsale Rhizotomie, bei der sensorische Nervenwurzeln im Bereich des unteren Rückenmarks durchtrennt werden, kann bei Kindern mit Zerebralparese die Spastizität abschwächen und die Lebensqualität verbessern. Dies zeigen die Ergebnisse einer Fallserie in Lancet Child & Adolescent Health (2019; doi: 10.1016/S2352-4642(19)30119-1).

Die fehlende zerebrale Kontrolle der Rückenmarksreflexe ist maßgeblich für die erhöhte Spastizität der Muskulatur verantwortlich, die kennzeichnend ist für Patienten mit infantiler Zerebralparese. Eine biologisch plausible Behandlung ist die selektive Durchtrennung von sensorischen Nervenfasern, die die Rückenmarksreflexe aufhebt. Die Operation, die bereits vor einem Jahrhundert von dem deutschen Neurologen Otfrid Foerster entwickelt wurde, ist in den letzten Jahrzehnten wieder entdeckt und verbessert worden. Es werden nicht mehr die gesamten Nervenwurzeln durchtrennt, sondern nur jene Anteile, die an den Reflexen beteiligt sind.

In Nordamerika wurden in den 1990er-Jahren 3 randomisierte Studien durchgeführt. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die selektive dorsale Rhizotomie die Spastizität abschwächt und die Schmerzen lindert. In anderen Ländern wird die Operation seltener durchgeführt. Der National Health Service in England machte die Finanzierung von einer prospektiven Beobachtungsstudie abhängig, in der die mittelfristigen Auswirkungen auf die Lebens­qualität untersucht werden sollten.

Zwischen September 2014 und März 2016 wurden an 5 Kliniken in England 137 Patienten mit infantiler Zerebralparese operiert. Das Ziel der Behandlung war eine Verbesserung der Mobilität. Deshalb wurden für die Studie nur jüngere Patienten (Alter 3 bis 9 Jahre) ausgewählt, bei denen es noch nicht zu permanenten Veränderungen im Skelett gekommen war, die die Mobilität auch bei verminderter Spastizität einschränken würde.

Eine weitere Voraussetzung war eine gewisse Gehfähigkeit: Die Kinder mussten sich selbstständig (Stufe 2 im „Gross Motor Functions Classification System“) oder mit leichten Gehhilfen (Stufe 3) bewegen können. Außerdem durften in der Magnetresonanztomografie keine Schäden in Hirnzentren erkennbar sein, die für die Koordinierung von Bewegungen zuständig sind.

Bei der Operation wurden nach Entfernung eines Wirbelbogens (Laminektomie/Lamino­plastie) die dorsalen Nervenwurzeln von L1 bis S1 isoliert und dann mittels neurophysiologischer Stimulation nach jenen Nervenfasern gesucht, die am Reflexbogen beteiligt sind. Nur diese sollten chirurgisch durchtrennt werden. Die sensiblen Fasern für das Berührungsempfinden der Haut sollten nach Möglichkeit geschont werden.

Wie Jennifer Summers vom King’s College London und Mitarbeiter jetzt berichten, kam es bei fast allen Kindern in den ersten beiden Jahren zu einer Verbesserung der motorischen Fähigkeiten. In der krankheitsspezifischen „Gross Motor Function Measure“ kam es zu einen Anstieg um 3,2 Einheiten pro Jahr, der mit einem 95-%-Konfidenzintervall von 2,9 bis 3,5 statistisch signifikant war.

Im „Cerebral Palsy Quality of Life Questionnaire“, in dem Eltern oder Betreuer die Lebensqualität der Kinder beurteilen, kam es in 5 von 7 Domänen zu signifikanten Verbesserungen: Die motorischen Funktionen verbesserten sich um 3,0 Einheiten (2,0-4,0), die Teilnahme und die körperliche Gesundheit wurde um 3,9 Einheiten (2,5-5,3) höher eingestuft. Das emotionale Wohlbefinden und das Selbstwertgefühl stiegen um 1,3 Einheiten (0,2-2,3), die Familiengesundheit verbesserte sich um 2,0 Einheiten (0,7-3,3), während Schmerzen und die Auswirkungen der Behinderung um 2,5 Einheiten (1,2-3,9) zurückgingen.

Bei insgesamt 15 Kindern kam es zu 17 Nebenwirkungen, darunter auch anhaltenden Dysästhesien in den Füßen und Beinen. Die Nebenwirkungen wurden jedoch in keinem Fall als schwerwiegend eingestuft, sodass das Fazit von Summers insgesamt positiv ausfällt. Der National Health Service hat aufgrund der Ergebnisse im letzten Jahr die Operation in seinen Leistungskatalog aufgenommen. In Deutschland wird die Behandlung von einigen Kliniken angeboten.

Aus den USA liegen mittlerweile Langzeiterfahrungen vor. T. S. Park von der Washington University School of Medicine in St. Louis und Mitarbeiter haben 95 Patienten befragt, deren Operation mittlerweile 20 bis 28 Jahre zurückliegt. Fast alle (91 %) waren der Meinung, dass die Operation ihre Lebensqualität positiv beeinflusst hat und die überwiegende Mehrheit (88 %) würde anderen Patienten zu der Operation raten (Cureus 2017; 9: e1256). © rme/aerzteblatt.de